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authorStefan Suhren <suhren.stefan@fh-swf.de>2015-10-09 09:58:02 +0200
committerStefan Suhren <suhren.stefan@fh-swf.de>2015-10-09 09:58:02 +0200
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-rw-r--r--Aufgabe2/Stechlin-01.txt291
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index 0000000..2ccde09
--- /dev/null
+++ b/Aufgabe2/Rilke-Herbsttag.txt
@@ -0,0 +1,31 @@
+
+
+ Herbsttag
+
+ Rainer Maria Rilke
+
+
+ Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
+
+ Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
+
+ und auf den Fluren laß die Winde los.
+
+ Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
+
+ gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
+
+ dränge sie zur Vollendung hin, und jage
+
+ die letzte Süße in den schweren Wein.
+
+ Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
+
+ Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
+
+ wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
+
+ und wird in den Alleen hin und her
+
+ unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
+
diff --git a/Aufgabe2/Stechlin-01.txt b/Aufgabe2/Stechlin-01.txt
new file mode 100644
index 0000000..5f5cfc0
--- /dev/null
+++ b/Aufgabe2/Stechlin-01.txt
@@ -0,0 +1,291 @@
+ Schloß Stechlin
+ Erstes Kapitel
+Im Norden der Grafschaft Ruppin, hart an der mecklenburgischen Grenze, zieht
+sich von dem Städtchen Gransee bis nach Rheinsberg hin (und noch darüber
+hinaus) eine mehrere Meilen lange Seenkette durch eine menschenarme, nur hie
+und da mit ein paar Dörfern, sonst aber ausschließlich mit Förstereien, Glas-
+und Teeröfen besetzte Waldung. Einer der Seen, die diese Seenkette bilden,
+heißt »der Stechlin«. Zwischen flachen, nur an einer einzigen Stelle steil und
+kaiartig ansteigenden Ufern liegt er da, rundum von alten Buchen eingefaßt,
+deren Zweige, von ihrer eignen Schwere nach unten gezogen, den See mit ihrer
+Spitze berühren. Hie und da wächst ein weniges von Schilf und Binsen auf, aber
+kein Kahn zieht seine Furchen, kein Vogel singt, und nur selten, daß ein
+Habicht drüber hinfliegt und seinen Schatten auf die Spiegelfläche wirft. Alles
+still hier. Und doch, von Zeit zu Zeit wird es an ebendieser Stelle lebendig.
+Das ist, wenn es weit draußen in der Welt, sei's auf Island, sei's auf Java zu
+rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane
+bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird. Dann regt sich's auch hier, und
+ein Wasserstrahl springt auf und sinkt wieder in die Tiefe. Das wissen alle,
+die den Stechlin umwohnen, und wenn sie davon sprechen, so setzen sie wohl auch
+hinzu: »Das mit dem Wasserstrahl, das ist nur das Kleine, das beinah
+Alltägliche; wenn's aber draußen was Großes gibt, wie vor hundert Jahren in
+Lissabon, dann brodelt's hier nicht bloß und sprudelt und strudelt, dann steigt
+statt des Wasserstrahls ein roter Hahn auf und kräht laut in die Lande hinein.«
+Das ist der Stechlin, der See Stechlin.
+
+Aber nicht nur der See führt diesen Namen, auch der Wald, der ihn umschließt.
+Und Stechlin heißt ebenso das langgestreckte Dorf, das sich, den Windungen des
+Sees folgend, um seine Südspitze herumzieht. Etwa hundert Häuser und Hütten
+bilden hier eine lange, schmale Gasse, die sich nur da, wo eine von Kloster
+Wutz her heranführende Kastanienallee die Gasse durchschneidet, platzartig
+erweitert. An ebendieser Stelle findet sich denn auch die ganze Herrlichkeit
+von Dorf Stechlin zusammen; das Pfarrhaus, die Schule, das Schulzenamt, der
+Krug, dieser letztere zugleich ein Eck- und Kramladen mit einem kleinen Mohren
+und einer Girlande von Schwefelfäden in seinem Schaufenster. Dieser Ecke schräg
+gegenüber, unmittelbar hinter dem Pfarrhause, steigt der Kirchhof lehnan, auf
+ihm, so ziemlich in seiner Mitte, die frühmittelalterliche Feldsteinkirche mit
+einem aus dem vorigen Jahrhundert stammenden Dachreiter und einem zur Seite des
+alten Rundbogenportals angebrachten Holzarm, dran eine Glocke hängt. Neben
+diesem Kirchhof samt Kirche setzt sich dann die von Kloster Wutz her
+heranführende Kastanienallee noch eine kleine Strecke weiter fort, bis sie vor
+einer über einen sumpfigen Graben sich hinziehenden und von zwei riesigen
+Findlingsblöcken flankierten Bohlenbrücke haltmacht. Diese Brücke ist sehr
+primitiv. Jenseits derselben aber steigt das Herrenhaus auf, ein gelbgetünchter
+Bau mit hohem Dach und zwei Blitzableitern.
+Auch dieses Herrenhaus heißt Stechlin, Schloß Stechlin.
+
+Etliche hundert Jahre zurück stand hier ein wirkliches Schloß, ein Backsteinbau
+mit dicken Rundtürmen, aus welcher Zeit her auch noch der Graben stammt, der
+die von ihm durchschnittene, sich in den See hinein erstreckende Landzunge zu
+einer kleinen Insel machte. Das ging so bis in die Tage der Reformation.
+Während der Schwedenzeit aber wurde das alte Schloß niedergelegt, und man
+schien es seinem gänzlichen Verfall überlassen, auch nichts an seine Stelle
+setzen zu wollen, bis kurz nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. die
+ganze Trümmermasse beiseite geschafft und ein Neubau beliebt wurde. Dieser
+Neubau war das Haus, das jetzt noch stand. Es hatte denselben nüchternen
+Charakter wie fast alles, was unter dem Soldatenkönig entstand, und war nichts
+weiter als ein einfaches Corps de logis, dessen zwei vorspringende, bis dicht
+an den Graben reichende Seitenflügel ein Hufeisen und innerhalb desselben einen
+kahlen Vorhof bildeten, auf dem, als einziges Schmuckstück, eine große blanke
+Glaskugel sich präsentierte. Sonst sah man nichts als eine vor dem Hause sich
+hinziehende Rampe, von deren dem Hofe zugekehrten Vorderwand der Kalk schon
+wieder abfiel. Gleichzeitig war aber doch ein Bestreben unverkennbar, gerade
+diese Rampe zu was Besonderem zu machen, und zwar mit Hilfe mehrerer Kübel mit
+exotischen Blattpflanzen, darunter zwei Aloes, von denen die eine noch gut im
+Stande, die andre dagegen krank war. Aber gerade diese kranke war der Liebling
+des Schloßherrn, weil sie jeden Sommer in einer ihr freilich nicht zukommenden
+Blüte stand. Und das hing so zusammen. Aus dem, sumpfigen Schloßgraben hatte
+der Wind vor langer Zeit ein fremdes Samenkorn in den Kübel der kranken Aloe
+geweht, und alljährlich schossen infolge davon aus der Mitte der schon
+angegelbten Aloeblätter die weiß und roten Dolden des Wasserliesch oder des
+Butomus umbellatus auf. Jeder Fremde, der kam, wenn er nicht zufällig ein
+Kenner war, nahm diese Dolden für richtige Aloeblüten, und der Schloßherr
+hütete sich wohl, diesen Glauben, der eine Quelle der Erheiterung für ihn war,
+zu zerstören.
+Und wie denn alles hier herum den Namen Stechlin führte, so natürlich auch der
+Schloßherr selbst. Auch er war ein Stechlin.
+Dubslav von Stechlin, Major a. D. und schon ein gut Stück über Sechzig hinaus,
+war der Typus eines Märkischen von Adel, aber von der milderen Observanz, eines
+jener erquicklichen Originale, bei denen sich selbst die Schwächen in Vorzüge
+verwandeln. Er hatte noch ganz das eigentümlich sympathisch berührende
+Selbstgefühl all derer, die »schon vor den Hohenzollern da waren«, aber er
+hegte dieses Selbstgefühl nur ganz im stillen, und wenn es dennoch zum Ausdruck
+kam, so kleidete sich's in Humor, auch wohl in Selbstironie, weil er seinem
+ganzen Wesen nach überhaupt hinter alles ein Fragezeichen machte. Sein
+schönster Zug war eine tiefe, so recht aus dem Herzen kommende Humanität, und
+Dünkel und Überheblichkeit (während er sonst eine Neigung hatte, fünf gerade
+sein zu lassen) waren so ziemlich die einzigen Dinge, die ihn empörten. Er
+hörte gern eine freie Meinung, je drastischer und extremer, desto besser. Daß
+sich diese Meinung mit der seinigen deckte, lag ihm fern zu wünschen. Beinah
+das Gegenteil. Paradoxen waren seine Passion. »Ich bin nicht klug genug, selber
+welche zu machen, aber ich freue mich, wenn's andre tun; es ist doch immer was
+drin. Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche
+gibt, so sind sie langweilig.« Er ließ sich gern was vorplaudern und plauderte
+selber gern.
+Des alten Schloßherrn Lebensgang war märkisch-herkömmlich gewesen. Von jung an
+lieber im Sattel als bei den Büchern, war er erst nach zweimaliger Scheiterung
+siegreich durch das Fähnrichsexamen gesteuert und gleich danach bei den
+Brandenburgischen Kürassieren eingetreten, bei denen selbstverständlich auch
+schon sein Vater gestanden hatte. Dieser sein Eintritt ins Regiment fiel so
+ziemlich mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. zusammen, und wenn er
+dessen erwähnte, so hob er, sich selbst persiflierend, gerne hervor, »daß alles
+Große seine Begleiterscheinungen habe«. Seine Jahre bei den Kürassieren waren
+im wesentlichen Friedensjahre gewesen; nur anno vierundsechzig war er mit in
+Schleswig, aber auch hier, ohne »zur Aktion« zu kommen. »Es kommt für einen
+Märkischen nur darauf an, überhaupt mit dabei gewesen zu sein; das andre steht
+in Gottes Hand.« Und er schmunzelte, wenn er dergleichen sagte, seine Hörer
+jedesmal in Zweifel darüber lassend, ob er's ernsthaft oder scherzhaft gemeint
+habe. Wenig mehr als ein Jahr vor Ausbruch des vierundsechziger Kriegs war ihm
+ein Sohn geboren worden, und kaum wieder in seine Garnison Brandenburg
+eingerückt, nahm er den Abschied, um sich auf sein seit dem Tode des Vaters
+halb verödetes Schloß Stechlin zurückzuziehen. Hier warteten seiner glückliche
+Tage, seine glücklichsten, aber sie waren von kurzer Dauer - schon das Jahr
+darauf starb ihm die Frau. Sich eine neue zu nehmen, widerstand ihm, halb aus
+Ordnungssinn und halb aus ästhetischer Rücksicht. »Wir glauben doch alle mehr
+oder weniger an eine Auferstehung« (das heißt, er persönlich glaubte eigentlich
+nicht daran), »und wenn ich dann oben ankomme mit einer rechts und einer links,
+so ist das doch immer eine genierliche Sache.« Diese Worte - wie denn der
+Eltern Tun nur allzu häufig der Mißbilligung der Kinder begegnet - richteten
+sich in Wirklichkeit gegen seinen dreimal verheiratet gewesenen Vater, an dem
+er überhaupt allerlei Großes und Kleines auszusetzen hatte, so beispielsweise
+auch, daß man ihm, dem Sohne, den pommerschen Namen »Dubslav« beigelegt hatte.
+»Gewiß, meine Mutter war eine Pommersche, noch dazu von der Insel Usedom, und
+ihr Bruder, nun ja, der hieß Dubslav. Und so war denn gegen den Namen schon um
+des Onkels willen nicht viel einzuwenden, und um so weniger, als er ein
+Erbonkel war. (Daß er mich schließlich schändlich im Stich gelassen, ist eine
+Sache für sich.) Aber trotzdem bleib' ich dabei, solche Namensmanscherei
+verwirrt bloß. Was ein Märkischer ist, der muß Joachim heißen oder Woldemar.
+Bleib im Lande und taufe dich redlich. Wer aus Friesack is, darf nicht Raoul
+heißen.«
+Dubslav von Stechlin blieb also Witwer. Das ging nun schon an die dreißig
+Jahre. Anfangs war's ihm schwer geworden, aber jetzt lag alles hinter ihm, und
+er lebte »comme philosophe« nach dem Wort und Vorbild des großen Königs, zu dem
+er jederzeit bewundernd aufblickte. Das war sein Mann, mehr als irgendwer, der
+sich seitdem einen Namen gemacht hatte. Das zeigte sich jedesmal, wenn ihm
+gesagt wurde, daß er einen Bismarckkopf habe. »Nun ja, ja, den hab' ich; ich
+soll ihm sogar ähnlich sehen. Aber die Leute sagen es immer so, als ob ich mich
+dafür bedanken müßte. Wenn ich nur wüßte, bei wem; vielleicht beim lieben Gott,
+oder am Ende gar bei Bismarck selbst. Die Stechline sind aber auch nicht von
+schlechten Eltern. Außerdem, ich für meine Person, ich habe bei den sechsten
+Kürassieren gestanden, und Bismarck bloß bei den siebenten, und die kleinere
+Zahl ist in Preußen bekanntlich immer die größere; - ich bin ihm also einen
+über. Und Friedrichsruh, wo alles jetzt hinpilgert, soll auch bloß 'ne Kate
+sein. Darin sind wir uns also gleich. Und solchen See, wie den Stechlin, nu,
+den hat er schon ganz gewiß nicht. So was kommt überhaupt bloß selten vor.«
+
+Ja, auf seinen See war Dubslav stolz, aber destoweniger stolz war er auf sein
+Schloß, weshalb es ihn auch verdroß, wenn es überhaupt so genannt wurde. Von
+den armen Leuten ließ er sich's gefallen: »Für die ist es ein Schloß, aber
+sonst ist es ein alter Kasten und weiter nichts.« Und so sprach er denn lieber
+von seinem »Haus«, und wenn er einen Brief schrieb, so stand darüber »Haus
+Stechlin«. Er war sich auch bewußt, daß es kein Schloßleben war, das er führte.
+Vordem, als der alte Backsteinbau noch stand, mit seinen dicken Türmen und
+seinem Luginsland, von dem aus man, über die Kronen der Bäume weg, weit ins
+Land hinaussah, ja, damals war hier ein Schloßleben gewesen, und die
+derzeitigen alten Stechline hatten teilgenommen an allen Festlichkeiten, wie
+sie die Ruppiner Grafen und die mecklenburgischen Herzöge gaben, und waren mit
+den Boitzenburgern und den Bassewitzens verschwägert gewesen. Aber heute waren
+die Stechline Leute von schwachen Mitteln, die sich nur eben noch hielten und
+beständig bemüht waren, durch eine »gute Partie« sich wieder leidlich in die
+Höhe zu bringen. Auch Dubslavs Vater war auf die Weise zu seinen drei Frauen
+gekommen, unter denen freilich nur die erste das in sie gesetzte Vertrauen
+gerechtfertigt hatte. Für den jetzigen Schloßherrn, der von der zweiten Frau
+stammte, hatte sich daraus leider kein unmittelbarer Vorteil ergeben, und
+Dubslav von Stechlin wäre kleiner und großer Sorgen und Verlegenheiten nie los
+und ledig geworden, wenn er nicht in dem benachbarten Gransee seinen alten
+Freund Baruch Hirschfeld gehabt hätte. Dieser Alte, der den großen Tuchladen am
+Markt und außerdem die Modesachen und Damenhüte hatte, hinsichtlich deren es
+immer hieß, »Gerson schicke ihm alles zuerst« - dieser alte Baruch, ohne das
+»Geschäftliche« darüber zu vergessen, hing in der Tat mit einer Art
+Zärtlichkeit an dem Stechliner Schloßherrn, was, wenn es sich mal wieder um
+eine neue Schuldverschreibung handelte, regelmäßig zu heikeln
+Auseinandersetzungen zwischen Hirschfeld Vater und Hirschfeld Sohn führte.
+»Gott, Isidor, ich weiß, du bist fürs Neue. Aber was ist das Neue? Das Neue
+versammelt sich immer auf unserm Markt, und mal stürmt es uns den Laden und
+nimmt uns die Hüte, Stück für Stück, und die Reiherfedern und die
+Straußenfedern. Ich bin fürs Alte und für den guten alten Herrn von Stechlin.
+Is doch der Vater von seinem Großvater gefallen in der großen Schlacht bei Prag
+und hat gezahlt mit seinem Leben.«
+»Ja, der hat gezahlt; wenigstens hat er gezahlt mit seinem Leben. Aber der von
+heute...«
+»Der zahlt auch, wenn er kann und wenn er hat. Und wenn er nicht hat, und ich
+sage: Herr von Stechlin, ich werde schreiben siebeneinhalb, dann feilscht er
+nicht und dann zwackt er nicht. Und wenn er kippt, nu, da haben wir das Objekt:
+Mittelboden und Wald und Jagd und viel Fischfang. Ich seh' es immer so ganz
+klein in der Perspektiv', und ich seh' auch schon den Kirchturm.«
+»Aber, Vaterleben, was sollen wir mit 'm Kirchturm?«
+In dieser Richtung gingen öfters die Gespräche zwischen Vater und Sohn, und was
+der Alte vorläufig noch in der »Perspektive« sah, das wäre vielleicht schon
+Wirklichkeit geworden, wenn nicht des alten Dubslav um zehn Jahre ältere
+Schwester mit ihrem von der Mutter her ererbten Vermögen gewesen wäre:
+Schwester Adelheid, Domina zu Kloster Wutz. Die half und sagte gut, wenn es
+schlecht stand oder gar zum Äußersten zu kommen schien. Aber sie half nicht aus
+Liebe zu dem Bruder - gegen den sie, ganz im Gegenteil, viel einzuwenden
+hatte -, sondern lediglich aus einem allgemeinen Stechlinschen Familiengefühl.
+Preußen war was und die Mark Brandenburg auch; aber das Wichtigste waren doch
+die Stechlins, und der Gedanke, das alte Schloß in andern Besitz und nun gar in
+einen solchen übergehen zu sehen, war ihr unerträglich. Und über all dies
+hinaus war ja noch ihr Patenkind da, ihr Neffe Woldemar, für den sie all die
+Liebe hegte, die sie dem Bruder versagte.
+Ja, die Domina half, aber solcher Hilfen unerachtet wuchs das Gefühl der
+Entfremdung zwischen den Geschwistern, und so kam es denn, daß der alte
+Dubslav, der die Schwester in Kloster Wutz weder gern besuchte noch auch ihren
+Besuch gern empfing, nichts von Umgang besaß als seinen Pastor Lorenzen (den
+früheren Erzieher Woldemars) und seinen Küster und Dorfschullehrer
+Krippenstapel, zu denen sich allenfalls noch Oberförster Katzler gesellte,
+Katzler, der Feldjäger gewesen war und ein gut Stück Welt gesehen hatte. Doch
+auch diese drei kamen nur, wenn sie gerufen wurden, und so war eigentlich nur
+einer da, der in jedem Augenblicke Red' und Antwort stand. Das war Engelke,
+sein alter Diener, der seit beinahe fünfzig Jahren alles mit seinem Herrn
+durchlebt hatte, seine glücklichen Leutnantstage, seine kurze Ehe und seine
+lange Einsamkeit. Engelke, noch um ein Jahr älter als sein Herr, war dessen
+Vertrauter geworden, aber ohne Vertraulichkeit. Dubslav verstand es, die
+Scheidewand zu ziehen. Übrigens wär' es auch ohne diese Kunst gegangen. Denn
+Engelke war einer von den guten Menschen, die nicht aus Berechnung oder
+Klugheit, sondern von Natur hingebend und demütig sind und in einem treuen
+Dienen ihr Genüge finden. Alltags war er, so Winter wie Sommer, in ein
+Leinwandhabit gekleidet, und nur wenn es zu Tisch ging, trug er eine richtige
+Livree von sandfarbenem Tuch mit großen Knöpfen dran. Es waren Knöpfe, die noch
+die Zeiten des Rheinsberger Prinzen Heinrich gesehen hatten, weshalb Dubslav,
+als er mal wieder in Verlegenheit geraten war, zu dem jüngst verstorbenen alten
+Herrn von Kortschädel gesagt hatte: »Ja, Kortschädel, wenn ich so meinen
+Engelke, wie er da geht und steht, ins märkische Provinzialmuseum abliefern
+könnte, so kriegt' ich ein Jahrgehalt und wäre raus.«
+
+Das war im Mai, daß der alte Stechlin diese Worte zu seinem Freunde Kortschädel
+gesprochen hatte. Heute aber war dritter Oktober und ein wundervoller Herbsttag
+dazu. Dubslav, sonst empfindlich gegen Zug, hatte die Türen aufmachen lassen,
+und von dem großen Portal her zog ein erquicklicher Luftstrom bis auf die mit
+weiß und schwarzen Fliesen gedeckte Veranda hinaus. Eine große, etwas
+schadhafte Markise war hier herabgelassen und gab Schutz gegen die Sonne, deren
+Lichter durch die schadhaften Stellen hindurchschienen und auf den Fliesen ein
+Schattenspiel aufführten. Gartenstühle standen umher, vor einer Bank aber, die
+sich an die Hauswand lehnte, waren doppelte Strohmatten gelegt. Auf eben dieser
+Bank, ein Bild des Behagens, saß der alte Stechlin in Joppe und breitkrempigem
+Filzhut und sah, während er aus seinem Meerschaum allerlei Ringe blies, auf ein
+Rundell, in dessen Mitte, von Blumen eingefaßt, eine kleine Fontäne
+plätscherte. Rechts daneben lief ein sogenannter Poetensteig, an dessen Ausgang
+ein ziemlich hoher, aus allerlei Gebälk zusammengezimmerter Aussichtsturm
+aufragte. Ganz oben eine Plattform mit Fahnenstange, daran die preußische
+Flagge wehte, schwarz und weiß, alles schon ziemlich verschlissen.
+Engelke hatte vor kurzen einen roten Streifen annähen wollen, war aber mit
+seinem Vorschlag nicht durchgedrungen. »Laß. Ich bin nicht dafür. Das alte
+Schwarz und Weiß hält gerade noch; aber wenn du was Rotes dran nähst, dann
+reißt es gewiß.«
+Die Pfeife war ausgegangen, und Dubslav wollte sich eben von seinem Platz
+erheben und nach Engelke rufen, als dieser vom Gartensaal her auf die Veranda
+heraustrat.
+»Das ist recht, Engelke, daß du kommst... Aber du hast da ja was wie 'n
+Telegramm in der Hand. Ich kann Telegramms nicht leiden. Immer is einer dod,
+oder es kommt wer, der besser zu Hause geblieben wäre.«
+Engelke griente. »Der junge Herr kommt.«
+»Und das weißt du schon?«
+»Ja, Brose hat es mir gesagt.«
+»So, so. Dienstgeheimnis. Na, gib her.«
+Und unter diesen Worten brach er das Telegramm auf und las: »Lieber Papa. Bin
+sechs Uhr bei dir. Rex und von Czako begleiten mich. Dein Woldemar.«
+Engelke stand und wartete.
+»Ja, was da tun, Engelke?« sagte Dubslav und drehte das Telegramm hin und her.
+»Und aus Cremmen und von heute früh«, fuhr er fort. »Da müssen sie also die
+Nacht über schon in Cremmen gewesen sein. Auch kein Spaß.«
+»Aber Cremmen is doch soweit ganz gut.«
+»Nu, gewiß, gewiß. Bloß sie haben da so kurze Betten... Und wenn man, wie
+Woldemar, Kavallerist ist, kann man ja doch auch die acht Meilen von Berlin bis
+Stechlin in einer Pace machen. Warum also Nachtquartier? Und Rex und von Czako
+begleiten mich. Ich kenne Rex nicht und kenne von Czako nicht. Wahrscheinlich
+Regimentskameraden. Haben wir denn was?«
+»Ich denk' doch, gnädiger Herr. Und wovor haben wir denn unsre Mamsell? Die
+wird schon was finden.«
+»Nu gut. Also wir haben was. Aber wen laden wir dazu ein? So bloß ich, das geht
+nicht. Ich mag mich keinem Menschen mehr vorsetzen. Czako, das ginge vielleicht
+noch. Aber Rex, wenn ich ihn auch nicht kenne, zu so was Feinem wie Rex pass'
+ich nicht mehr; ich bin zu altmodisch geworden. Was meinst du, ob die
+Gundermanns wohl können?«
+»Ach, die können schon. Er gewiß, und sie kluckt auch bloß immer so rum.«
+»Also Gundermanns. Gut. Und dann vielleicht Oberförsters. Das älteste Kind hat
+freilich die Masern, und die Frau, das heißt die Gemahlin (und Gemahlin is
+eigentlich auch noch nicht das rechte Wort), die erwartet wieder. Man weiß nie
+recht, wie man mit ihr dran ist und wie man sie nennen soll, Oberförsterin
+Katzler oder Durchlaucht. Aber man kann's am Ende versuchen. Und dann unser
+Pastor. Der hat doch wenigstens die Bildung. Gundermann allein ist zu wenig und
+eigentlich bloß ein Klutentreter. Und seitdem er die Siebenmühlen hat, ist er
+noch weniger geworden.«
+Engelke nickte.
+»Na, dann schick also Martin. Aber er soll sich proper machen. Oder vielleicht
+ist Brose noch da; der kann ja auf seinem Retourgang bei Gundermanns mit
+rangehen. Und soll ihnen sagen sieben Uhr, aber nicht früher; sie sitzen sonst
+so lange rum, und man weiß nicht, wovon man reden soll. Das heißt mit ihm, sie
+red't immerzu... Und gib Brosen auch 'nen Kornus und funfzig Pfennig.«
+»Ich werd' ihm dreißig geben.«
+»Nein, nein, funfzig. Erst hat er ja doch was gebracht, und nu nimmt er wieder
+was mit. Das ist ja so gut wie doppelt. Also funfzig. Knaps ihm nichts ab.«