From 078e927e51cbfa18e26bd35076a0eb5b5bf1ffb8 Mon Sep 17 00:00:00 2001 From: Stefan Suhren Date: Fri, 9 Oct 2015 09:58:02 +0200 Subject: Add needed files --- Aufgabe2/Stechlin-01.txt | 291 +++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ 1 file changed, 291 insertions(+) create mode 100644 Aufgabe2/Stechlin-01.txt (limited to 'Aufgabe2/Stechlin-01.txt') diff --git a/Aufgabe2/Stechlin-01.txt b/Aufgabe2/Stechlin-01.txt new file mode 100644 index 0000000..5f5cfc0 --- /dev/null +++ b/Aufgabe2/Stechlin-01.txt @@ -0,0 +1,291 @@ + Schloß Stechlin + Erstes Kapitel +Im Norden der Grafschaft Ruppin, hart an der mecklenburgischen Grenze, zieht +sich von dem Städtchen Gransee bis nach Rheinsberg hin (und noch darüber +hinaus) eine mehrere Meilen lange Seenkette durch eine menschenarme, nur hie +und da mit ein paar Dörfern, sonst aber ausschließlich mit Förstereien, Glas- +und Teeröfen besetzte Waldung. Einer der Seen, die diese Seenkette bilden, +heißt »der Stechlin«. Zwischen flachen, nur an einer einzigen Stelle steil und +kaiartig ansteigenden Ufern liegt er da, rundum von alten Buchen eingefaßt, +deren Zweige, von ihrer eignen Schwere nach unten gezogen, den See mit ihrer +Spitze berühren. Hie und da wächst ein weniges von Schilf und Binsen auf, aber +kein Kahn zieht seine Furchen, kein Vogel singt, und nur selten, daß ein +Habicht drüber hinfliegt und seinen Schatten auf die Spiegelfläche wirft. Alles +still hier. Und doch, von Zeit zu Zeit wird es an ebendieser Stelle lebendig. +Das ist, wenn es weit draußen in der Welt, sei's auf Island, sei's auf Java zu +rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane +bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird. Dann regt sich's auch hier, und +ein Wasserstrahl springt auf und sinkt wieder in die Tiefe. Das wissen alle, +die den Stechlin umwohnen, und wenn sie davon sprechen, so setzen sie wohl auch +hinzu: »Das mit dem Wasserstrahl, das ist nur das Kleine, das beinah +Alltägliche; wenn's aber draußen was Großes gibt, wie vor hundert Jahren in +Lissabon, dann brodelt's hier nicht bloß und sprudelt und strudelt, dann steigt +statt des Wasserstrahls ein roter Hahn auf und kräht laut in die Lande hinein.« +Das ist der Stechlin, der See Stechlin. + +Aber nicht nur der See führt diesen Namen, auch der Wald, der ihn umschließt. +Und Stechlin heißt ebenso das langgestreckte Dorf, das sich, den Windungen des +Sees folgend, um seine Südspitze herumzieht. Etwa hundert Häuser und Hütten +bilden hier eine lange, schmale Gasse, die sich nur da, wo eine von Kloster +Wutz her heranführende Kastanienallee die Gasse durchschneidet, platzartig +erweitert. An ebendieser Stelle findet sich denn auch die ganze Herrlichkeit +von Dorf Stechlin zusammen; das Pfarrhaus, die Schule, das Schulzenamt, der +Krug, dieser letztere zugleich ein Eck- und Kramladen mit einem kleinen Mohren +und einer Girlande von Schwefelfäden in seinem Schaufenster. Dieser Ecke schräg +gegenüber, unmittelbar hinter dem Pfarrhause, steigt der Kirchhof lehnan, auf +ihm, so ziemlich in seiner Mitte, die frühmittelalterliche Feldsteinkirche mit +einem aus dem vorigen Jahrhundert stammenden Dachreiter und einem zur Seite des +alten Rundbogenportals angebrachten Holzarm, dran eine Glocke hängt. Neben +diesem Kirchhof samt Kirche setzt sich dann die von Kloster Wutz her +heranführende Kastanienallee noch eine kleine Strecke weiter fort, bis sie vor +einer über einen sumpfigen Graben sich hinziehenden und von zwei riesigen +Findlingsblöcken flankierten Bohlenbrücke haltmacht. Diese Brücke ist sehr +primitiv. Jenseits derselben aber steigt das Herrenhaus auf, ein gelbgetünchter +Bau mit hohem Dach und zwei Blitzableitern. +Auch dieses Herrenhaus heißt Stechlin, Schloß Stechlin. + +Etliche hundert Jahre zurück stand hier ein wirkliches Schloß, ein Backsteinbau +mit dicken Rundtürmen, aus welcher Zeit her auch noch der Graben stammt, der +die von ihm durchschnittene, sich in den See hinein erstreckende Landzunge zu +einer kleinen Insel machte. Das ging so bis in die Tage der Reformation. +Während der Schwedenzeit aber wurde das alte Schloß niedergelegt, und man +schien es seinem gänzlichen Verfall überlassen, auch nichts an seine Stelle +setzen zu wollen, bis kurz nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. die +ganze Trümmermasse beiseite geschafft und ein Neubau beliebt wurde. Dieser +Neubau war das Haus, das jetzt noch stand. Es hatte denselben nüchternen +Charakter wie fast alles, was unter dem Soldatenkönig entstand, und war nichts +weiter als ein einfaches Corps de logis, dessen zwei vorspringende, bis dicht +an den Graben reichende Seitenflügel ein Hufeisen und innerhalb desselben einen +kahlen Vorhof bildeten, auf dem, als einziges Schmuckstück, eine große blanke +Glaskugel sich präsentierte. Sonst sah man nichts als eine vor dem Hause sich +hinziehende Rampe, von deren dem Hofe zugekehrten Vorderwand der Kalk schon +wieder abfiel. Gleichzeitig war aber doch ein Bestreben unverkennbar, gerade +diese Rampe zu was Besonderem zu machen, und zwar mit Hilfe mehrerer Kübel mit +exotischen Blattpflanzen, darunter zwei Aloes, von denen die eine noch gut im +Stande, die andre dagegen krank war. Aber gerade diese kranke war der Liebling +des Schloßherrn, weil sie jeden Sommer in einer ihr freilich nicht zukommenden +Blüte stand. Und das hing so zusammen. Aus dem, sumpfigen Schloßgraben hatte +der Wind vor langer Zeit ein fremdes Samenkorn in den Kübel der kranken Aloe +geweht, und alljährlich schossen infolge davon aus der Mitte der schon +angegelbten Aloeblätter die weiß und roten Dolden des Wasserliesch oder des +Butomus umbellatus auf. Jeder Fremde, der kam, wenn er nicht zufällig ein +Kenner war, nahm diese Dolden für richtige Aloeblüten, und der Schloßherr +hütete sich wohl, diesen Glauben, der eine Quelle der Erheiterung für ihn war, +zu zerstören. +Und wie denn alles hier herum den Namen Stechlin führte, so natürlich auch der +Schloßherr selbst. Auch er war ein Stechlin. +Dubslav von Stechlin, Major a. D. und schon ein gut Stück über Sechzig hinaus, +war der Typus eines Märkischen von Adel, aber von der milderen Observanz, eines +jener erquicklichen Originale, bei denen sich selbst die Schwächen in Vorzüge +verwandeln. Er hatte noch ganz das eigentümlich sympathisch berührende +Selbstgefühl all derer, die »schon vor den Hohenzollern da waren«, aber er +hegte dieses Selbstgefühl nur ganz im stillen, und wenn es dennoch zum Ausdruck +kam, so kleidete sich's in Humor, auch wohl in Selbstironie, weil er seinem +ganzen Wesen nach überhaupt hinter alles ein Fragezeichen machte. Sein +schönster Zug war eine tiefe, so recht aus dem Herzen kommende Humanität, und +Dünkel und Überheblichkeit (während er sonst eine Neigung hatte, fünf gerade +sein zu lassen) waren so ziemlich die einzigen Dinge, die ihn empörten. Er +hörte gern eine freie Meinung, je drastischer und extremer, desto besser. Daß +sich diese Meinung mit der seinigen deckte, lag ihm fern zu wünschen. Beinah +das Gegenteil. Paradoxen waren seine Passion. »Ich bin nicht klug genug, selber +welche zu machen, aber ich freue mich, wenn's andre tun; es ist doch immer was +drin. Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche +gibt, so sind sie langweilig.« Er ließ sich gern was vorplaudern und plauderte +selber gern. +Des alten Schloßherrn Lebensgang war märkisch-herkömmlich gewesen. Von jung an +lieber im Sattel als bei den Büchern, war er erst nach zweimaliger Scheiterung +siegreich durch das Fähnrichsexamen gesteuert und gleich danach bei den +Brandenburgischen Kürassieren eingetreten, bei denen selbstverständlich auch +schon sein Vater gestanden hatte. Dieser sein Eintritt ins Regiment fiel so +ziemlich mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. zusammen, und wenn er +dessen erwähnte, so hob er, sich selbst persiflierend, gerne hervor, »daß alles +Große seine Begleiterscheinungen habe«. Seine Jahre bei den Kürassieren waren +im wesentlichen Friedensjahre gewesen; nur anno vierundsechzig war er mit in +Schleswig, aber auch hier, ohne »zur Aktion« zu kommen. »Es kommt für einen +Märkischen nur darauf an, überhaupt mit dabei gewesen zu sein; das andre steht +in Gottes Hand.« Und er schmunzelte, wenn er dergleichen sagte, seine Hörer +jedesmal in Zweifel darüber lassend, ob er's ernsthaft oder scherzhaft gemeint +habe. Wenig mehr als ein Jahr vor Ausbruch des vierundsechziger Kriegs war ihm +ein Sohn geboren worden, und kaum wieder in seine Garnison Brandenburg +eingerückt, nahm er den Abschied, um sich auf sein seit dem Tode des Vaters +halb verödetes Schloß Stechlin zurückzuziehen. Hier warteten seiner glückliche +Tage, seine glücklichsten, aber sie waren von kurzer Dauer - schon das Jahr +darauf starb ihm die Frau. Sich eine neue zu nehmen, widerstand ihm, halb aus +Ordnungssinn und halb aus ästhetischer Rücksicht. »Wir glauben doch alle mehr +oder weniger an eine Auferstehung« (das heißt, er persönlich glaubte eigentlich +nicht daran), »und wenn ich dann oben ankomme mit einer rechts und einer links, +so ist das doch immer eine genierliche Sache.« Diese Worte - wie denn der +Eltern Tun nur allzu häufig der Mißbilligung der Kinder begegnet - richteten +sich in Wirklichkeit gegen seinen dreimal verheiratet gewesenen Vater, an dem +er überhaupt allerlei Großes und Kleines auszusetzen hatte, so beispielsweise +auch, daß man ihm, dem Sohne, den pommerschen Namen »Dubslav« beigelegt hatte. +»Gewiß, meine Mutter war eine Pommersche, noch dazu von der Insel Usedom, und +ihr Bruder, nun ja, der hieß Dubslav. Und so war denn gegen den Namen schon um +des Onkels willen nicht viel einzuwenden, und um so weniger, als er ein +Erbonkel war. (Daß er mich schließlich schändlich im Stich gelassen, ist eine +Sache für sich.) Aber trotzdem bleib' ich dabei, solche Namensmanscherei +verwirrt bloß. Was ein Märkischer ist, der muß Joachim heißen oder Woldemar. +Bleib im Lande und taufe dich redlich. Wer aus Friesack is, darf nicht Raoul +heißen.« +Dubslav von Stechlin blieb also Witwer. Das ging nun schon an die dreißig +Jahre. Anfangs war's ihm schwer geworden, aber jetzt lag alles hinter ihm, und +er lebte »comme philosophe« nach dem Wort und Vorbild des großen Königs, zu dem +er jederzeit bewundernd aufblickte. Das war sein Mann, mehr als irgendwer, der +sich seitdem einen Namen gemacht hatte. Das zeigte sich jedesmal, wenn ihm +gesagt wurde, daß er einen Bismarckkopf habe. »Nun ja, ja, den hab' ich; ich +soll ihm sogar ähnlich sehen. Aber die Leute sagen es immer so, als ob ich mich +dafür bedanken müßte. Wenn ich nur wüßte, bei wem; vielleicht beim lieben Gott, +oder am Ende gar bei Bismarck selbst. Die Stechline sind aber auch nicht von +schlechten Eltern. Außerdem, ich für meine Person, ich habe bei den sechsten +Kürassieren gestanden, und Bismarck bloß bei den siebenten, und die kleinere +Zahl ist in Preußen bekanntlich immer die größere; - ich bin ihm also einen +über. Und Friedrichsruh, wo alles jetzt hinpilgert, soll auch bloß 'ne Kate +sein. Darin sind wir uns also gleich. Und solchen See, wie den Stechlin, nu, +den hat er schon ganz gewiß nicht. So was kommt überhaupt bloß selten vor.« + +Ja, auf seinen See war Dubslav stolz, aber destoweniger stolz war er auf sein +Schloß, weshalb es ihn auch verdroß, wenn es überhaupt so genannt wurde. Von +den armen Leuten ließ er sich's gefallen: »Für die ist es ein Schloß, aber +sonst ist es ein alter Kasten und weiter nichts.« Und so sprach er denn lieber +von seinem »Haus«, und wenn er einen Brief schrieb, so stand darüber »Haus +Stechlin«. Er war sich auch bewußt, daß es kein Schloßleben war, das er führte. +Vordem, als der alte Backsteinbau noch stand, mit seinen dicken Türmen und +seinem Luginsland, von dem aus man, über die Kronen der Bäume weg, weit ins +Land hinaussah, ja, damals war hier ein Schloßleben gewesen, und die +derzeitigen alten Stechline hatten teilgenommen an allen Festlichkeiten, wie +sie die Ruppiner Grafen und die mecklenburgischen Herzöge gaben, und waren mit +den Boitzenburgern und den Bassewitzens verschwägert gewesen. Aber heute waren +die Stechline Leute von schwachen Mitteln, die sich nur eben noch hielten und +beständig bemüht waren, durch eine »gute Partie« sich wieder leidlich in die +Höhe zu bringen. Auch Dubslavs Vater war auf die Weise zu seinen drei Frauen +gekommen, unter denen freilich nur die erste das in sie gesetzte Vertrauen +gerechtfertigt hatte. Für den jetzigen Schloßherrn, der von der zweiten Frau +stammte, hatte sich daraus leider kein unmittelbarer Vorteil ergeben, und +Dubslav von Stechlin wäre kleiner und großer Sorgen und Verlegenheiten nie los +und ledig geworden, wenn er nicht in dem benachbarten Gransee seinen alten +Freund Baruch Hirschfeld gehabt hätte. Dieser Alte, der den großen Tuchladen am +Markt und außerdem die Modesachen und Damenhüte hatte, hinsichtlich deren es +immer hieß, »Gerson schicke ihm alles zuerst« - dieser alte Baruch, ohne das +»Geschäftliche« darüber zu vergessen, hing in der Tat mit einer Art +Zärtlichkeit an dem Stechliner Schloßherrn, was, wenn es sich mal wieder um +eine neue Schuldverschreibung handelte, regelmäßig zu heikeln +Auseinandersetzungen zwischen Hirschfeld Vater und Hirschfeld Sohn führte. +»Gott, Isidor, ich weiß, du bist fürs Neue. Aber was ist das Neue? Das Neue +versammelt sich immer auf unserm Markt, und mal stürmt es uns den Laden und +nimmt uns die Hüte, Stück für Stück, und die Reiherfedern und die +Straußenfedern. Ich bin fürs Alte und für den guten alten Herrn von Stechlin. +Is doch der Vater von seinem Großvater gefallen in der großen Schlacht bei Prag +und hat gezahlt mit seinem Leben.« +»Ja, der hat gezahlt; wenigstens hat er gezahlt mit seinem Leben. Aber der von +heute...« +»Der zahlt auch, wenn er kann und wenn er hat. Und wenn er nicht hat, und ich +sage: Herr von Stechlin, ich werde schreiben siebeneinhalb, dann feilscht er +nicht und dann zwackt er nicht. Und wenn er kippt, nu, da haben wir das Objekt: +Mittelboden und Wald und Jagd und viel Fischfang. Ich seh' es immer so ganz +klein in der Perspektiv', und ich seh' auch schon den Kirchturm.« +»Aber, Vaterleben, was sollen wir mit 'm Kirchturm?« +In dieser Richtung gingen öfters die Gespräche zwischen Vater und Sohn, und was +der Alte vorläufig noch in der »Perspektive« sah, das wäre vielleicht schon +Wirklichkeit geworden, wenn nicht des alten Dubslav um zehn Jahre ältere +Schwester mit ihrem von der Mutter her ererbten Vermögen gewesen wäre: +Schwester Adelheid, Domina zu Kloster Wutz. Die half und sagte gut, wenn es +schlecht stand oder gar zum Äußersten zu kommen schien. Aber sie half nicht aus +Liebe zu dem Bruder - gegen den sie, ganz im Gegenteil, viel einzuwenden +hatte -, sondern lediglich aus einem allgemeinen Stechlinschen Familiengefühl. +Preußen war was und die Mark Brandenburg auch; aber das Wichtigste waren doch +die Stechlins, und der Gedanke, das alte Schloß in andern Besitz und nun gar in +einen solchen übergehen zu sehen, war ihr unerträglich. Und über all dies +hinaus war ja noch ihr Patenkind da, ihr Neffe Woldemar, für den sie all die +Liebe hegte, die sie dem Bruder versagte. +Ja, die Domina half, aber solcher Hilfen unerachtet wuchs das Gefühl der +Entfremdung zwischen den Geschwistern, und so kam es denn, daß der alte +Dubslav, der die Schwester in Kloster Wutz weder gern besuchte noch auch ihren +Besuch gern empfing, nichts von Umgang besaß als seinen Pastor Lorenzen (den +früheren Erzieher Woldemars) und seinen Küster und Dorfschullehrer +Krippenstapel, zu denen sich allenfalls noch Oberförster Katzler gesellte, +Katzler, der Feldjäger gewesen war und ein gut Stück Welt gesehen hatte. Doch +auch diese drei kamen nur, wenn sie gerufen wurden, und so war eigentlich nur +einer da, der in jedem Augenblicke Red' und Antwort stand. Das war Engelke, +sein alter Diener, der seit beinahe fünfzig Jahren alles mit seinem Herrn +durchlebt hatte, seine glücklichen Leutnantstage, seine kurze Ehe und seine +lange Einsamkeit. Engelke, noch um ein Jahr älter als sein Herr, war dessen +Vertrauter geworden, aber ohne Vertraulichkeit. Dubslav verstand es, die +Scheidewand zu ziehen. Übrigens wär' es auch ohne diese Kunst gegangen. Denn +Engelke war einer von den guten Menschen, die nicht aus Berechnung oder +Klugheit, sondern von Natur hingebend und demütig sind und in einem treuen +Dienen ihr Genüge finden. Alltags war er, so Winter wie Sommer, in ein +Leinwandhabit gekleidet, und nur wenn es zu Tisch ging, trug er eine richtige +Livree von sandfarbenem Tuch mit großen Knöpfen dran. Es waren Knöpfe, die noch +die Zeiten des Rheinsberger Prinzen Heinrich gesehen hatten, weshalb Dubslav, +als er mal wieder in Verlegenheit geraten war, zu dem jüngst verstorbenen alten +Herrn von Kortschädel gesagt hatte: »Ja, Kortschädel, wenn ich so meinen +Engelke, wie er da geht und steht, ins märkische Provinzialmuseum abliefern +könnte, so kriegt' ich ein Jahrgehalt und wäre raus.« + +Das war im Mai, daß der alte Stechlin diese Worte zu seinem Freunde Kortschädel +gesprochen hatte. Heute aber war dritter Oktober und ein wundervoller Herbsttag +dazu. Dubslav, sonst empfindlich gegen Zug, hatte die Türen aufmachen lassen, +und von dem großen Portal her zog ein erquicklicher Luftstrom bis auf die mit +weiß und schwarzen Fliesen gedeckte Veranda hinaus. Eine große, etwas +schadhafte Markise war hier herabgelassen und gab Schutz gegen die Sonne, deren +Lichter durch die schadhaften Stellen hindurchschienen und auf den Fliesen ein +Schattenspiel aufführten. Gartenstühle standen umher, vor einer Bank aber, die +sich an die Hauswand lehnte, waren doppelte Strohmatten gelegt. Auf eben dieser +Bank, ein Bild des Behagens, saß der alte Stechlin in Joppe und breitkrempigem +Filzhut und sah, während er aus seinem Meerschaum allerlei Ringe blies, auf ein +Rundell, in dessen Mitte, von Blumen eingefaßt, eine kleine Fontäne +plätscherte. Rechts daneben lief ein sogenannter Poetensteig, an dessen Ausgang +ein ziemlich hoher, aus allerlei Gebälk zusammengezimmerter Aussichtsturm +aufragte. Ganz oben eine Plattform mit Fahnenstange, daran die preußische +Flagge wehte, schwarz und weiß, alles schon ziemlich verschlissen. +Engelke hatte vor kurzen einen roten Streifen annähen wollen, war aber mit +seinem Vorschlag nicht durchgedrungen. »Laß. Ich bin nicht dafür. Das alte +Schwarz und Weiß hält gerade noch; aber wenn du was Rotes dran nähst, dann +reißt es gewiß.« +Die Pfeife war ausgegangen, und Dubslav wollte sich eben von seinem Platz +erheben und nach Engelke rufen, als dieser vom Gartensaal her auf die Veranda +heraustrat. +»Das ist recht, Engelke, daß du kommst... Aber du hast da ja was wie 'n +Telegramm in der Hand. Ich kann Telegramms nicht leiden. Immer is einer dod, +oder es kommt wer, der besser zu Hause geblieben wäre.« +Engelke griente. »Der junge Herr kommt.« +»Und das weißt du schon?« +»Ja, Brose hat es mir gesagt.« +»So, so. Dienstgeheimnis. Na, gib her.« +Und unter diesen Worten brach er das Telegramm auf und las: »Lieber Papa. Bin +sechs Uhr bei dir. Rex und von Czako begleiten mich. Dein Woldemar.« +Engelke stand und wartete. +»Ja, was da tun, Engelke?« sagte Dubslav und drehte das Telegramm hin und her. +»Und aus Cremmen und von heute früh«, fuhr er fort. »Da müssen sie also die +Nacht über schon in Cremmen gewesen sein. Auch kein Spaß.« +»Aber Cremmen is doch soweit ganz gut.« +»Nu, gewiß, gewiß. Bloß sie haben da so kurze Betten... Und wenn man, wie +Woldemar, Kavallerist ist, kann man ja doch auch die acht Meilen von Berlin bis +Stechlin in einer Pace machen. Warum also Nachtquartier? Und Rex und von Czako +begleiten mich. Ich kenne Rex nicht und kenne von Czako nicht. Wahrscheinlich +Regimentskameraden. Haben wir denn was?« +»Ich denk' doch, gnädiger Herr. Und wovor haben wir denn unsre Mamsell? Die +wird schon was finden.« +»Nu gut. Also wir haben was. Aber wen laden wir dazu ein? So bloß ich, das geht +nicht. Ich mag mich keinem Menschen mehr vorsetzen. Czako, das ginge vielleicht +noch. Aber Rex, wenn ich ihn auch nicht kenne, zu so was Feinem wie Rex pass' +ich nicht mehr; ich bin zu altmodisch geworden. Was meinst du, ob die +Gundermanns wohl können?« +»Ach, die können schon. Er gewiß, und sie kluckt auch bloß immer so rum.« +»Also Gundermanns. Gut. Und dann vielleicht Oberförsters. Das älteste Kind hat +freilich die Masern, und die Frau, das heißt die Gemahlin (und Gemahlin is +eigentlich auch noch nicht das rechte Wort), die erwartet wieder. Man weiß nie +recht, wie man mit ihr dran ist und wie man sie nennen soll, Oberförsterin +Katzler oder Durchlaucht. Aber man kann's am Ende versuchen. Und dann unser +Pastor. Der hat doch wenigstens die Bildung. Gundermann allein ist zu wenig und +eigentlich bloß ein Klutentreter. Und seitdem er die Siebenmühlen hat, ist er +noch weniger geworden.« +Engelke nickte. +»Na, dann schick also Martin. Aber er soll sich proper machen. Oder vielleicht +ist Brose noch da; der kann ja auf seinem Retourgang bei Gundermanns mit +rangehen. Und soll ihnen sagen sieben Uhr, aber nicht früher; sie sitzen sonst +so lange rum, und man weiß nicht, wovon man reden soll. Das heißt mit ihm, sie +red't immerzu... Und gib Brosen auch 'nen Kornus und funfzig Pfennig.« +»Ich werd' ihm dreißig geben.« +»Nein, nein, funfzig. Erst hat er ja doch was gebracht, und nu nimmt er wieder +was mit. Das ist ja so gut wie doppelt. Also funfzig. Knaps ihm nichts ab.« -- cgit v1.2.3-70-g09d2